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5. Nov. 2016 — Neurowisenschaftliche Erkenntnisse lassen die Möglichkeit einer Pharmakotherapie von Verhaltensstörungen bezweifeln.
Peter R. Lorenz, D-86842 Türkheim
1. Physiologische Erkenntnisse
Verhaltensuntersuchungen haben gezeigt, dass die Verarbeitung von Informationen, die von den Sinnesorganen aufgenommen werden, eine geeignete Verknüpfung von Großhirnbereichen voraussetzt, die getrennt und parallel arbeiten [1a]. Regionen des Gehirns sind nicht Sitze geistiger Fähigkeiten, sondern sie führen elementare Operationen durch, die durch serielle und parallele Verknüpfungen verschiedener Gehirnregionen komplexe Funktionen ermöglichen [1a]. Eine Fehlfunktion an einer Stelle muss die Leistung des Gesamtsystems nicht auf Dauer beeinträchtigen. Die übrigen Teile des Systems können ihre Leistung modifizieren und sich an den zusätzlichen Informationsfluss anpassen. Geistige Prozesse – Wahrnehmen, Denken, Lernen, Erinnern – setzen sich aus mehreren unabhängigen informationsverarbeitenden Schritten zusammen [1a]. Sensorische Informationen werden vom Gehirn in Sinneswahrnehmungen oder in Bewegungsanweisungen umgewandelt [1b]. Dies wird mit Hilfe von Nervenzellen (Neuronen) und ihren Verknüpfungen bewältigt. Die Neuronen unterscheiden sich nicht sehr in ihren elektrischen Eigenschaften; Neuronen mit ähnlichen Eigenschaften haben unterschiedliche Funktionen wegen ihrer anderen Verknüpfungen im Nervensystem [1c]. Es ist die Komplexität der Verbindungen zwischen vielen Elementen, die eine komplexe Informationsverarbeitung möglich macht. Diese Verschaltung ist während der Entwicklung und später durch Lernen modifizierbar. Kognitive und emotionale Interventionen verursachen Veränderungen der funktionalen Verschaltungen [2]. Die Plastizität der Beziehungen zwischen Einheiten im Nervensystem definiert die Individualität des Menschen [1c]. Die Fähigkeit der Neuronen, Signale präzise und schnell auch über größere Entfernungen weiterzuleiten, beruht auf schnellen Änderungen der elektrischen Potentialdifferenz über der Zellmembran, die durch kurzfristige Veränderungen von Ionenkanälen, durch die anorganische Ionen mit extrem hoher Geschwindigkeit fließen, ermöglicht werden (Aktionspotentiale) [1d]. Die Signalübertragung zwischen erregbaren Zellen geschieht über sog. Synapsen (Orte der Übertragung zwischen kommunizierenden Zellen) [1e]. Die Hemmung der neuronalen Aktivität erfolgt durch Hyperpolarisation postsynaptischer Proteine [3]. Die Spezifität der synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen, die sich während der Entwicklung herausbildet, ist die Grundlage von Wahrnehmung, Handeln, Gefühl und Lernen [1e]. Im Durchschnitt bildet ein Neuron rund 1000 synaptische Verbindungen aus und empfängt noch bedeutend mehr, das menschliche Gehirn enthält rund 10.11 (hundert Milliarden) Neuronen. Es gibt elektrische und chemische Synapsen. Bei elektrischen Synapsen ist der synaptische Spalt schmal, der Strom, der durch ein Aktionspotential im präsynaptischen Neuron hervorgerufen wird, fließt direkt in die postsynaptische Zelle. Bei chemischen Synapsen führt eine Änderung des Membranpotentials der präsynaptischen Zelle zur Freisetzung chemischer Botenstoffe (Neurotransmitter), die durch den synaptischen Spalt diffundieren und an Rezeptormoleküle der postsynaptischen Zelle binden, wodurch sich Ionenkanäle öffnen, durch die Strom fließt [1e]. Neurotransmitter gehören diversen biochemischen Stoffklassen an [4]. Elektrische und chemische Synapsen kooperieren und interagieren weitgehend im Aufbau neuraler Schaltungen [5]. Störungen können zu kognitiven Beeinträchtigungen führen [5]. Die enorme molekülare Diversität der Synapsen trägt bei zur Funktion neuraler Schaltungen, zur Art der synaptischen Übertragung und Plastizität, zu Zelltyp- und Projektions-spezifischen Unterschieden, zur Entwicklung spezifischer Übertragungsmuster und zur differenzierten Anpassung an neurologische Erkrankungen [6].
2. Arzneimittelrechtliche Grundlagen
Gemäß §§ 4(23) Satz 1, 4(27) a), 4(28) und 5(2) des Arzneimittelgesetzes müssen die Wirksamkeit und die Bedenklichkeit der Verabreichung von Arzneimitteln anhand von Kriterien der Krankheitsverläufe eindeutig messbar sein. Beispiele von Wirksamkeiten sind die Verringerungen von Blutzuckerspiegeln bei Zuckerkrankheit, der Anzahl von Krankheitserregern im Blut nach Infektionen, oder der Größe eines Tumors unter der jeweiligen Behandlung. Für die Verhaltensstörung Schizophrenie gibt es jedoch keinen maßgeblichen Test zum Nachweis [7], was die Messbarkeit einer heilenden Wirksamkeit der Antipsychotika ausschließt. Hauptsächlich aus diesem Grund lehnen namhafte pharmazeutische Hersteller die Durchführung weiterer klinischer Studien ab [8; 9]. Der Begriff „Schizophrenie“ wird in Frage gestellt [10]. Die Diagnose „Schizophrenie“ kann tödlich sein [11]. Die Bedenklichkeit der Verabreichung von Antipsychotika ist umfangreich belegt: Es ist bekannt, dass Betroffenen durch die langfristige Einnahme von Antipsychotika eine um 25-32 Jahre verkürzte Lebenserwartung bevorsteht [12].
3. Eine alternative Behandlungsmethode
Die Neuro-Psychodynamische Psychiatrie beschreibt, dass im Krankheitsbild der Psychose die Erscheinungen des pathogenen Vorgangs oft von denen eines Heilungs- oder Rekonstruktionsversuches überdeckt werden [13]. „Hat der Therapeut erst einmal begriffen, dass das hartnäckige und unbeirrbare Festhalten des psychotischen Patienten am Symptom einen existenziellen Schutzmechanismus darstellt, dann kommt es zu einer neuen Basis der therapeutischen Beziehung in der psychodynamischen Behandlung [13]. Psychotische Patienten bemerken rasch die Veränderung in der Einstellung der Therapeuten und lassen sich auf die Neugestaltung des therapeutischen Miteinanders ein. Damit entsteht die Chance, an dem zu arbeiten, was „dahinter oder darunter“ gelegen ist, das heißt ganz konkret, dass das Bedingungsgefüge, aus dem das Symptom entstanden ist, Gegenstand der Therapie wird“ [13].
Schlussfolgerungen
Angesichts der praktisch unendlichen Vielfalt der Plastizität der Synapsen ist ein praktikabler Ansatzpunkt für eine Pharmakotherapie nicht erkennbar.
Die Nutzen- Risiko- Abwägung schließt die Verabreichung von Antipsychotika an Menschen aus.
Das psychodynamische Behandlungs-Konzept ist kompatibel mit der neurowissenschaftlichen Erkenntnis der neuronalen Plastizität des Nervensystems.
Literatur
1
Kandel E R et al, Hrsg, Neurowissenschaften: Eine Einführung, Spektrum Akad. Verl. Berlin 1995, a: S. 17-18; b: S. 22; c: S. 41; d: S. 119; e: S. 187
2
Berns G S et al, Short- and Long-Term Effects of a Novel on Connectivity in the Brain, Brain Connectivity 3 (2013) 590-600
3
Uezu A et al, Identification of an elaborate complex mediating postsynaptic inhibition, Science 353 (2016) 1123-1129
4
Neurotransmitter http://de.wikipedia.org/wiki/Neurotransmitter März 2015
5
Pereda A E, Electrical synapses and their functional interactions with chemical synapses, Nature Reviews Neuroscience 15 (2014) 250-263
6
O´Rourke N A et al, Deep molecular diversity of mammalian synapses: why it matters and how to measure it, Nature Reviews Neuroscience 13 (2012) 365-379
7
Das MSD Manual S. 1897, Urban & Fischer 6. Aufl., München 2000
8
Becker R E et al, Lost in Translation: Neuropsychiatric Drug Development, ScienceTranslationalMedicine 2 (2010) 2
9
Hyman S E, Revolution Stalled, ScienceTranslationalMedicine 4 (2012) 155
10
VanOs J, „Schizophrenia“ does not exist, British Medical Journal 352 (2016) i375
11
Müller T, Diabetesrisiko unter Antipsychotika stark erhöht, Ärzte Zeitung online 30.05.2016
12
Aderhold V, Mortalität durch Neuroleptika, Soziale Psychiatrie 4 (2007) 5-10
13
Böker H, Hartwich P, Northoff G, Hrsg, Neuro-psychodynamische Psychiatrie, Springer-Verlag Berlin 2016
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